Ganzjährige Sommerzeit wäre der "Cloxit"

Nach dem EU-Beschluss zur Zeitumstellung: Was würde es bedeuten, wenn die Sommerzeit 12 Monate anhielte? Die Situation wäre schlimmer als jetzt, sagen Experten.

Nach ihrer Umfrage, in der 84 Prozent von 4,6 Millionen Bürgern sich gegen die Zeitumstellung aussprachen, schlägt die EU-Kommission im Spätsommer 2018 vor, ab dem Jahr 2019 keine Uhren mehr zu verstellen. Die Länder dürfen danach ihre Zeitzone frei wählen. In Deutschland gilt eigentlich die Mitteleuropäische Zeit, MEZ, auch Normalzeit oder, in Anlehnung an die „Sommerzeit“, „Winterzeit“ genannt. Gesundheitsminister Jens Spahn twitterte dennoch: „Das ganze Jahr Sommerzeit? 4 von 5 Menschen in Europa sind dafür. Ich auch.“ Kanzlerin Angela Merkel soll sich ähnlich geäußert haben. Auch Wirtschaftsminister Peter Altmaier – in dessen Ressort die Wahl der Zeitzone zunächst fallen dürfte – hat sich für eine ganzjährige Sommerzeit ausgesprochen.

Bis ins Jahr 2021 wurde jedoch keiner der Vorschläge umgesetzt. Ohnehin war den Politikern vermutlich nie wirklich klar, worauf sie sich dabei einlassen? Ein solcher Entschluss bedeutet, dass unsere Uhren ganzjährig die Osteuropäische Zeit, OEZ, anzeigen, die eigentlich für die Ukraine oder Bulgarien gedacht ist. Da wir uns gleichzeitig aber nicht in diesen Ländern befinden, drohen vielfältige Nachteile. „Es wird riesige Probleme geben“, warnt der renommierte Münchner Chronobiologe Till Roenneberg. Er hat über die vielen Fehler, die wir im Umgang mit unserer biologischen Zeitmessung machen, unlängst ein ganzes Buch geschrieben.

Jens Spahn liegt also nicht nur doppelt falsch. (Es hat sich nur ein Bruchteil der Europäer geäußert und der Anteil der Befürworter einer ganzjährigen Sommerzeit liegt weit unter 80 Prozent – in Deutschland sollen es 60 Prozent derjenigen sein, die sich gegen die Zeitumstellung ausgesprochen haben.) Sein Fazit widerspricht auch der wissenschaftlichen Evidenz. Till Roenneberg beruft sich auf „begutachtete wissenschaftliche Literatur“. Seine Wissenschaft, die Chronobiologie, erforscht die inneren Uhren der Lebewesen und deren wichtige Bedeutung für die Gesundheit. Im Jahr 2017 erhielten deshalb drei Chronobiologen den Medizin-Nobelpreis. Den Erkenntnissen ihrer Kollegen zufolge wäre eine ganzjährige Sommerzeit für die Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Kreativität einer überwiegenden Mehrheit der Deutschen sehr viel schlechter als die jetzige Situation. Die Rückkehr zur ganzjährigen Normalzeit hätte für diese Menschen klare Vorteile und bliebe für die anderen ohne vergleichbare negative Auswirkungen.

Experte Roenneberg freut sich natürlich „riesig über das Vorhaben zur Abschaffung der Zeitumstellung“, nennt die Idee einer ganzjährigen Sommerzeit allerdings einen „Cloxit“. Wie beim Brexit würde die Gesellschaft hinterher ihr Votum bereuen. Erneut hätten die Bürger „über etwas abgestimmt, über dessen Folgen sie zuvor nicht ausreichend informiert worden sind.“

Doch was sind diese Folgen? Wie sähe das Leben in einer ganzjährigen Sommerzeit aus? Was wäre aus Sicht der Chronobiologie die beste Lösung für Deutschland und Europa? Hier die wichtigsten Antworten:

Wir können nur die Uhren verstellen, nicht die Zeit

Unsere Biologie erfasst die Tageszeit, indem sie das Sonnenlicht auswertet. Weil Licht morgens und abends entgegengesetzt wirkt, richten sich unsere inneren Uhren unabhängig von der Jahreszeit nach dem Zeitpunkt, zu dem die Sonne am höchsten Punkt steht, auch Sonnenzeit genannt. Bei Reisen in andere Zeitzonen gelingt es uns deshalb vergleichsweise rasch, uns anzupassen. Die Phase dazwischen wird Jetlag genannt. Stellen wir indes die Uhren um auf OEZ oder Sommerzeit, ohne zu verreisen, ist das letztlich nur die gesellschaftliche Übereinkunft, das soziale Leben eine Stunde nach vorne zu verlagern. Arbeit und Schule beginnen eine Stunde früher, wir stehen bis zu eine Stunde früher auf. Doch was in Kiew Sinn macht, weil dort auch die Sonne eine Stunde vorauseilt, verstetigt hierzulande die Jetlag-ähnliche Situation und erhöht Gesundheitsrisiken. Die Umstellung der Uhren im Frühjahr kann deshalb auch nicht mit einem Mini-Jetlag verglichen werden. Eine biologische Anpassung an die geänderte Uhrzeit ist kaum möglich.

Sommerzeit raubt Schlaf

85 Prozent der Deutschen lassen sich werktags von einem Wecker wecken. Sie leben im so genannten sozialen Jetlag. Ihr Arbeits- oder Schulrhythmus läuft dem biologischen Rhythmus voraus. Sie müssten eigentlich länger schlafen, können oder wollen dies aber nicht, und schlafen oft nur am Wochenende und in den Ferien aus (was wichtig und gut ist, aber nur selten genügt). Früher zu Bett zu gehen, hilft nur selten. Es fällt Menschen schwer, früher als biologisch vorgegeben einzuschlafen, weil der Spiegel des Nachthormons Melatonin dann zu niedrig ist. Das Leben in der Sommerzeit verschlimmert diese Situation, weil wir bezogen auf den Melatoninrhythmus noch früher aufstehen und zu Bett gehen. Diese Fehlentwicklung nun auch auf die Wintermonate auszudehnen, wäre fatal. Roenneberg schätzt, der soziale Jetlag verstärke sich dadurch um 50 Prozent.

Menschen sind verschieden

Der optimale Einschlafzeitpunkt ist individuell verschieden. Gerade den Spättypen oder Eulen genannten Menschen, deren Biologie abends spät auf Nacht und morgens verzögert auf Tag umschaltet, schadet die Sommerzeit. Selbst für die meisten Durchschnittstypen beginnt die Arbeit biologisch gesehen während der Sommerzeit zu früh. Deshalb fordern Chronobiologen eine größere Flexibilisierung von Arbeitszeiten. Und sie warnen vor der ganzjährigen Sommerzeit: Eine überwiegende Mehrheit der Menschen passt aufgrund unveränderbarer genetischer Voraussetzungen und angesichts der hierzulande verbreiteten sozialen Taktung nicht zu ihr. Eine ganzjährige Normalzeit hätte hingegen für kaum jemanden gravierende Nachteile. „Die Kosten, die sich aus dem Leben gegen die innere Uhr und aus Schlafproblemen ergeben, werden für Deutschland auf fast 60 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt“, sagt Chronobiologe Roenneberg. In einer ganzjährigen Sommerzeit würde die Zahl weiter steigen. In einer ganzjährigen Normalzeit dürfte sie sinken.

Die Jugend sollte ausschlafen

In Deutschland beginnt die Schule für die allermeisten Jugendlichen viel zu früh. Mit Einsetzen der Pubertät verschiebt sich die innere Rhythmik der Menschen. Sie werden für einige Jahre abends später müde und morgens sehr viel später wach. Schlafforscher und Chronobiologen fordern deshalb schon lange einen späteren Schulbeginn zumindest für die Mittel- und Oberstufe. Eine ganzjährige Sommerzeit würde Deutschland in Bildungsfragen hingegen zurückwerfen: Biologisch gesehen begänne die Schule dann nicht nur von April bis Oktober eine Stunde früher, wie es derzeit der Fall ist, sondern zusätzlich von November bis März. Das Unterrichten zunehmend unausgeschlafener Schüler zu einer Tageszeit, zu der sie noch gar nicht aufnahmefähig sind, wäre dabei noch nicht einmal das einzige Problem: In der ganzjährigen Sommerzeit würde es im Winter morgens extrem spät hell. Das Unfallrisiko auf dem Schulweg dürfte deutlich steigen.

Sommerzeit macht schlechte Stimmung

Auch Kindern und Jugendlichen hilft es meist nicht, einfach früher zu Bett zu gehen. Eltern kennen das: Vor allem nach der Uhrenumstellung im Frühjahr sind Kinder abends zwar zunehmend aufgekratzt, weil immer unausgeschlafener, sie können aber dennoch nicht richtig einschlafen. Bei ihnen zeigt sich am deutlichsten, was ein Leben im falschen Rhythmus bedeutet. Auf gesellschaftlicher Ebene dürfte der zunehmende chronische Schlafmangel infolge der ganzjährigen Sommerzeit zu mehr allgemeiner Reizbarkeit bis hin zu Depressionen oder depressiven Verstimmungen, vermehrten Suiziden, aber auch zu mehr Stoffwechselkrankheiten wie Diabetes führen. So waren jedenfalls die Erfahrungen, die Russland machte, als ab dem Jahr 2011 die ganzjährige Sommerzeit galt. Auch wenn die dort ermittelten Zahlen bislang nur in Ansätzen wissenschaftlich aufgearbeitet wurden, so bestätigt der Trend doch die Annahmen aus der Grundlagenforschung. Russland hat rasch reagiert. Dort gilt seit 2014 die ganzjährige Normalzeit.

Das Ende der Zeitzonen-Willkür

Zeitzonen sind eigentlich so gedacht, dass die Sonne in ihnen zwischen 11:30 Uhr im Osten und 12:30 Uhr im Westen im Zenit steht. Das passt biologisch gut zum sozialen Rhythmus der Durchschnittsmenschen. Leben Menschen zu weit westlich für ihre Zeitzone, etwa in Frankreich oder Spanien, verschieben sich die gesellschaftlichen Aktivitäten meist nach hinten. Nicht umsonst wird in Spanien oft erst um 21 oder 22 Uhr zu Abend gegessen – ein Szenario, das sich in einer dauerhaften Sommerzeit vielleicht auch in Deutschland eines Tages ergeben könnte. Doch wozu dann das Ganze? Viele Länder dürften die Abschaffung der Zeitumstellung zum Anlass nehmen, ihre Zeitzonenzugehörigkeit zu überdenken.

Zukunft Weltzeit?

Interessant ist vor diesem Hintergrund allerdings ein ganz anderes Zukunftsszenario: Was wäre, wenn man Zeitzonen einfach abschaffen würde und auf der ganzen Welt nur noch eine einzige einheitliche Uhrzeit gälte? Nicht nur für Flugpläne oder den Waren- und Datenaustausch wäre das eine Erleichterung. Auch wir Menschen müssten zwangsläufig lernen, dass die Zeit auf der Armbanduhr nichts mit unserer biologischen Uhr zu tun hat. Automatisch wäre auch die Taktung sozialer Aktivitäten wie Arbeits- Schul- und Freizeit von der Uhrzeit abgekoppelt. In manchen Ländern würde man dann ohne Wecker ausgeschlafen um 2 Uhr aufwachen. Es wäre dann aber morgens und nicht nachts, und das wäre völlig normal. Wir Menschen wären dann losgelöst von irgendwelchem Druck zum frühen Aufstehen oder morgendlichen Arbeiten. Wir könnten viel besser als heute dem intuitiven Zeitgefühl folgen und damit unserer angeborenen biologischen Rhythmik.

Und die Faktenlage?

  • In Zeiten der Debatten um „Lügenpresse“ und „Fake-News“ macht es Sinn, an dieser Stelle auf Folgendes hinzuweisen: Neben der überwältigenden Zahl an Indizien aus der Grundlagenforschung gibt es mittlerweile auch erste epidemiologische Daten, die die hier geäußerten Thesen stützen. Bestätigen sich diese Resultate, dürfte das Erkrankungsrisiko in der Gesamtbevölkerung messbar steigen, wenn die Zeitzonen etwa in Form einer dauerhaften Sommerzeit so verschoben werden, dass die Menschen früher zur Arbeit oder in die Schule gehen müssen. Drei Beispiele:
     
  • Eine über sieben Jahre währende Auswertung der Schlafrhythmen und Gemütslage russischer Schulkinder zeigte, dass sie in den Jahren 2011 bis 2014, als in Russland die dauerhafte Sommerzeit galt, an verstärktem sozialen Jetlag litten. Das führte zu negativen Stimmungsschwankungen (Biological Rhythm Research 2017).
     
  • Eine Studie aus den USA ergab, dass dort das Risiko, an Krebs zu erkranken, vom östlichen Rand einer Zeitzone zum westlichen Rand hin ansteigt. Parallel sinkt die Lebenserwartung. Eine mögliche Erklärung könnte der zunehmende chronische Schlafmangel infolge eines vergrößerten sozialen Jetlags sein (Cancer Epidemiology, Biomarkers & Prevention 2017).
     
  • Schon im Jahr 2006 wurde bekannt, dass Menschen umso häufiger an einer saisonalen Depression leiden, je weiter westlich sie in einer Zeitzone leben (Chronobiology International 2006;23:743–745).
     
  • Vergleichbare Studien, die gesundheitliche Vorteile einer ganzjährigen Sommerzeit nahe legen, sind dem Autor nicht bekannt.
     
  • Den wissenschaftlichen Stand zur Debatte finden Sie sehr gut aufgearbeitet in diesem lesenswerten Übersichtsartikel: Till Roenneberg, Eva Winnebeck & Elizabeth Klerman: Daylight Saving Time and artificial time zones – a battle between biological and social times. Frontiers in Physiology 2019; 10: 944. 
     

Peter Spork

 

Dieser Beitrag erschien zuerst am 18. September 2018 im Themenmagazin Erbe&Umwelt bei RiffReporter. Einige Details wurden später aktualisiert.